Eine mahnende Gleichzeitigkeit

Mit „Good Morning Wolfenbüttel – Szenen einer Befreiung“ beleuchtet folklicht* (Leah Lichtwitz und Folkert Dücker) in Zusammenarbeit mit der Regisseurin Anne Wittmiß und dem Videokünstler Lucian Patermann zum 80. Jahrestag der Befreiung Wolfenbüttels und des Landkreises verschiedene Situationen unterschiedlichster Figuren in den Tagen und Monaten nach dem 11. April 1945. Premiere feierte das Stück am 27. Juni im Garten des Feierabendhauses. Weitere Vorstellungen werden ab dem 29. August im Landkreis folgen.
Dem Künstler:innen-Duo folklicht und der Regisseurin Anne Wittmiß ist ein außergewöhnliches Stück Geschichtserzählung gelungen, das mit beeindruckender Sprachkraft, feinsinnigen Charakterzeichnungen und starker Bildsprache das Publikum unmittelbar in das Jahr 1945, in das Ende des Zweiten Weltkriegs mitnimmt. Dabei bleibt das Stück nicht an der Oberfläche historischer Fakten, sondern taucht tief in die zerrissenen Biografien, die Widersprüche und die Unsicherheiten jener Zeit ein. Die Stärke dieser Inszenierung liegt nicht zuletzt in den fein gearbeiteten Figuren, die das diffuse Gefühl von Zusammenbruch, Schuld und Neuanfang verkörpern – oft allein durch eine kleine Geste, einen Satz oder einen Blick. Die Schauspieler*innen Emma Schoepe, Regine Gebhardt und Folkert Dücker berühren mit Ausdrucksstärke, Vielseitigkeit und einem feinen Gespür für Zwischentöne.
Regisseurin Anne Wittmiß gelingt es in ihrer Inszenierung auf Belehrungen zu verzichten. Unterstützt vom klaren Kostümbild von Leah Lichtwitz überlässt sie dem Publikum die Interpretation der Figuren und schafft so Raum für eigene Antworten. Der Videokünstler Lucian Patermann fügt mit seinen immer deutlicher hervortretenden Elementen, Flächen und Schriften eine weitere Metaebene hinzu.
Bittere Kontraste werden zur Mahnung
Da ist der Junge, dessen unbeholfene Imitation amerikanischer GI-Lässigkeit die schmerzhafte Hilflosigkeit einer verlorenen Generation erahnen lässt. Nach einer von falschen Idealen geprägten Kindheit steht er nun vor den Trümmern. Im Gegensatz dazu hält die Überzeugte fanatisch an Ihrem untergehenden Weltbild fest. Fast verzweifelt wirkt das angesichts der neuen Situation auf den Straßen.
Dem Stück gelingt es beeindruckend, die vielschichtigen Perspektiven der namenlosen Protagonisten mit oft minimalen Mitteln, Gesten und Worten miteinander zu verweben und so zwischen politischer und zutiefst persönlicher Ebene zu changieren. Die Inszenierung besticht zudem durch die intelligent eingebundenen Chorpassagen und den wiederkehrenden Song „Good Morning“, der einen Kontrapunkt zur düsteren Thematik setzt.
Was als heiteres amerikanisches Lied beginnt, wird im Kontext der Inszenierung zur Mahnung: Die vermeintliche Normalität nach dem Krieg ist brüchig, oberflächlich, manchmal zynisch. Die Brüche der Geschichte lassen sich nicht einfach wegtanzen.
Ein Mosaik aus Einzelschicksalen
In seiner Gesamtheit wirkt das Stück wie ein Mosaik aus Einzelschicksalen, aus Fragmenten von Erinnerungen und kollektiver Geschichte. Das Publikum dabei zum Teil des Geschehens; die Grenze zwischen Theaterraum und Alltag verschwimmt. „Good Morning Wolfenbüttel“ ist kein einfach konsumierbares Stück. Es fordert heraus, stellt unbequeme Fragen und verweigert einfache Antworten. Doch genau darin liegt seine Größe: Es zeigt, dass Geschichte aus Gesichtern, Gesten und gebrochenen Stimmen besteht - und dass die Vergangenheit auf den Straßen, Plätzen und Köpfen noch immer spürbar ist. folklicht* beweist erneut eindrucksvoll, dass Theater im öffentlichen Raum mehr sein kann als reine Unterhaltung. Es ist eine Einladung zum Nachdenken, ein poetisches Mahnmal und zugleich ein hoffnungsvoller Blick in die Zukunft. Ein kluges, berührendes und tiefgründiges Open-Air-Erlebnis, das nachhallt.
Weitere Vorstellungen:
29. und 30. August, jeweils 20 Uhr, Donnerburg 15, Klein-Denkte.
04. September, 20 Uhr, St. Petri, Remlingen.
05. und 06. September, 20 Uhr, St. Petri, Erkerode.
Tickets und weitere Informationen unter www.goodmorning-wf.de.
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